Fernweh

(nach Wünschendorf)

 

Es ist ein wunderschöner, sonniger Wintertag. Die Luft ist mild und der erste Schnee hat sich über die Felder und Wiesen, über die herabgefallenen Blätter und den aufgeweichten Boden gelegt. Tanzende Schneeflocken begleiten mich auf meinem Weg vorbei an den ersten Häusern. Zu meiner Linken, etwas oberhalb, sehe ich die Friedhofsmauer und denke an meine Oma und meinen Ur-Großvater, die dort begraben liegen.

 

Kurz danach komme ich am Hof von Arlts vorbei, dann das Gebäude der ehemaligen katholischen Schule, das später im Besitz von Baumerts war, was ihnen den Namen „Schul-Baumerts“ einbrachte. Dahinter sehe ich den Kirchturm der katholischen Kirche; ein einfaches, aber denkwürdiges Gebäude aus dem 15. Jahrhundert. Mein Blick wendet sich nun dem evangelischen Bethaus zu, das die Wünschendorfer 1745 fertig gestellt haben. Die Bäume links und rechts der Tür laden geradezu zum Hineingehen ein, aber mein Ziel ist noch nicht erreicht.

 

Ich drehe mich kurz um für einen Blick durch die schneebedeckten Bäume auf den Glockenturm mit den drei Bronzeglocken, welcher 1927 der Stolz der evangelischen Gemeinde wurde.

 

An der linken Seite die Pfarrwiedemuth, als nächstes der „Gasthof zur Erholung“, den meisten als „Ausspann“ ein Begriff. Rechts von mir, auf einer Anhöhe, steht der Hof von Anders. Im Dach ist das Baujahr 1898 verewigt. Direkt an meinem Weg steht das Haus von Biens, seit 1902 im Familienbesitz und bereits 1743 als Wohnhaus für den evangelischen Prediger Johann Friedrich Feige erbaut. Es wäre schön, wenn die Heilquelle, die sich auf dem Grundstück befindet, den Wünschendorfern nutzen könnte.

 

Schräg gegenüber steht das jetzige Pastorenhaus und dahinter das Haus von Wilhelm Hilbig, der jahrzehntelang ein treuer Kirchendiener war. Inzwischen bin ich auch bei Reuners und Schöbels vorbeigekommen und sehe in einiger Entfernung vor mir das Schulgebäude. Wie viele meiner Vorfahren mögen dort das 1x1 gelernt haben?

 

Am Hof gegenüber verraten uns die Initialen „BK“ im Dach den Erbauer Bruno Kittelmann.

 

Mein Weg wird nun steiler und in einer Rechtsbiegung passiere ich den Hof von Friedrichs. Noch steiler geht es bergan und beschwerlicher, denn die Schneedecke lässt mich die Steine unter meinen Schuhen nicht erkennen. Noch ein Stück weiter, und ich habe mein Ziel erreicht. Ich gehe um das alte Häuschen herum zur Tür, doch ehe ich eintrete, schiebe ich den Schnee von der kleinen Bank und setze mich. Vor mir liegt der Teil des Dorfes, den ich gerade durchwandert habe. Mit der weißen Schneedecke wirkt es so friedlich, und wenn ich in weiter Ferne auf das Riesengebirge mit der Schneekoppe blicke, glaube ich, dass es nichts Böses auf der Welt geben kann.

 

Oft bin ich diesen Weg in meiner Fantasie gegangen und habe mir gewünscht, ihn nur einmal auch wirklich gehen zu können. Doch so, wie ich den Ort beschreibe, habe ich ihn niemals gesehen.

 

Die Friedhofsmauer zerfällt und die Gräber meiner Vorfahren sind, wie fast alle anderen auch, nicht mehr zu finden. Die ersten Häuser fehlen ebenso wie das evangelische Bethaus, an dessen Stelle sich heute ein Buswendeplatz befindet. Die alte, katholische Schule ist eine Ruine und wird demnächst abgerissen. Der Glockenturm hat seine Bezeichnung nicht mehr verdient, denn nach der Konfiszierung der Wünschendorfer und Matzdorfer Glocken im 2. Weltkrieg wurde 1996 die Riemendorfer Glocke gestohlen. Schindlers und Biens Häuser sind zwar weiß getüncht, aber bei Schindlers hat man das Fachwerk gleich mit übergemalt. Von Hilbigs Haus gibt es keine Spur mehr, bei Reuners und Schöbels sind nur noch die Umrisse zu erkennen. 1998 bekam die Schule einen gelben Anstrich, doch damit hat sie nicht nur ihr schäbiges Aussehen, sondern auch ihren Charme verloren. Friedrichs Haus wirkt alt und verlassen, und mein Ziel, eines der ältesten Häuser im Dorf, gibt es natürlich auch nicht mehr. Doch wenn ich auf diesem Grundstück stehe, mit dem unbeschreiblichen Blick auf das Dorf und das Riesengebirge, verstehe ich das Heimweh der Wünschendorfer, und ich wünsche mir, mehr zu erfahren; mehr über das schwierige Leben in einem abgelegenen Dorf, mehr über ihre Gewohnheiten und mehr über ihre Häuser.

 

Lasst uns die Erinnerungen zusammentragen und festhalten - für die Wünschendorfer und für ihre Nachkommen, die sich vielleicht eines Tages genauso für das Leben ihrer Vorfahren interessieren werden, wie ich es tue.

 

Doris Baumert

Stein-Baumert

Januar 2000